Henning Schmidgen (Bauhaus-Universität Weimar)
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Das Spektatorium. Über Bewegungs-Bilder des bloßen Lebens
Giorgio Agamben hat der Figur des „bloßen Lebens“ vor allem in der Geschichte von Politik, Recht und Macht nachgespürt. Aber nicht nur das menschliche Leben gerät unter Regime der Bloßstellung. Wie die Geschichte der Wissenschaften zeigt, ist dies auch und gerade für das nicht-menschliche Leben der Fall.
Der Vortrag zielt darauf ab, diese These mit Blick auf die Entwicklung der experimentellen Lebenswissenschaften im 19. Jahrhundert zu verdeutlichen. In seinem Mittelpunkt stehen mediale Verfahren und Techniken, die das bloße Leben vor großem Publikum zur „unmittelbaren Anschauung“ brachten. Seit den 1860er Jahren setzten Physiologen wie Jan Evangelista Purkinje (1787-1869), Johann Nepomuk Czermak (1828-1873) und Carl Jacobj (1857-1944) komplexe Projektionseinrichtungen ein, um zentrale Funktionen des Lebens, z.B. den Herzschlag, als Bewegungs-Bild auf großen Leinwänden zu zeigen. Ihr Ziel bestand darin, biologische Laboratorien mit Hilfe von Episkopen und ähnlichen Apparaten in „Spektatorien“ zu verwandeln, in denen die Tatsächlichkeit des bloßen Lebens sichtbar wird.
Der Vortrag argumentiert, dass sich diese Entwicklung weitgehend unabhängig von der Entwicklung und Verbreitung der Kinematographie vollzog. Im Unterschied zum Film ging es den Laborwissenschaftlern darum, das Leben nicht über den Umweg des Celluloids, sondern als belebte Materie direkt erkennbar werden zu lassen. Was sie zu diesem Zweck installierten, war ein „Kino ohne Film“, in dem die Bestandteile des kinematographischen Apparats auf kreative Weise neu konfiguriert wurden.
03.02.2015